Zusammen ins Leben

Die schönsten Geschichten schreibt das Leben, wie die folgende beweist. Sie vereint vier Menschen, die sich unter normalen Umständen niemals begegnet wären.

Als immer mehr Menschen in Deutschland Zuflucht vor Krieg, Vertreibung und Not in ihren Heimatländern suchten, stand für Iris Ebert schnell fest: „Ich möchte mich ehrenamtlich als Vormund engagieren.“ Die Sozialpädagogin brachte entsprechendes Rüstzeug mit. In der Unterkunft für unbegleitete minderjährige Flüchtlinge traf die Norderstedterin im Herbst 2016 erstmals ihre künftigen Schützlinge: zwei Brüder aus Afghanistan. Mohammad Shafiq, 17 Jahre, und der ein Jahr jüngere Mohammad Sediq stammen aus der Hauptstadt Kabul und hatten sich gemeinsam auf die gefährliche Flucht gemacht.

„Wir waren uns sofort sympathisch“, sagt Iris Ebert und die „Jungs“ pflichten ihr mit breitem Lächeln zustimmend bei. Neben den gesetzlichen Aufgaben einer Vormundin wie etwa Behördengänge wurden die Kontakte bald intensiver und persönlicher. Iris Ebert und ihr Mann Manuel Fritze gingen mit den Jugendlichen ins Kino, hatten Spaß im Kletterpark und entdeckten gemeinsam Norderstedt und Hamburg. „Die beiden waren immer öfter und gerne bei uns zuhause“, erinnert sich Iris Ebert. Die Verständigung funktionierte zunächst eher non-verbal mit Gestik und Mimik. Ehrgeizig lernten Mohammad Shafiq und Mohammad Sediq die deutsche Sprache, so dass sie dem Paar aus ihrer Heimat und von ihrer Kultur berichten konnten.

Mit seinem 18. Geburtstag musste der Ältere aus der Wohngruppe in der Alten Landstraße ausziehen. Iris Ebert gelang es, eine kleine Wohnung für die Brüder zu finden, doch richtig glücklich mit der neuen Wohnsituation war keiner. „Wir haben uns zwar gefreut, dass wir in Norderstedt bleiben konnten, aber es wäre schöner, mit mehreren Menschen zusammen zu sein“, sagt Mohammad Sediq, der im Berufsbildungszentrum (BBZ) seinen Schulabschluss machte.

„Eigentlich sollten wir wie eine Familie zusammenleben“ – mit seiner Idee brachte der inzwischen 18-Jährige vergangenen Herbst einen Stein ins Rollen. Iris Ebert war sofort angetan: „Selten habe ich so intensiv wie in den vergangenen zwei Jahren hinterfragt, was meine Werte und ob sie richtig sind; was Kulturen verbindet oder trennt. In Deutschland lebt zumeist jede Generation für sich – in Afghanistan dagegen bleibt eine Familie immer zusammen. Die Jungs sind mir ans Herz gewachsen und haben den Wunsch reifen lassen, mit ihnen eine Wohngemeinschaft zu gründen.“ Ihr Mann Manuel Fritze musste nicht lange überzeugt werden. „Ich verlasse ungern meine Komfortzone, aber die Idee einer interkulturellen WG hatte mich mit positiver Neugier gepackt“, so der Inhaber der Buchhandlung am Rathaus.

Einzig das Haus des Ehepaares war für die Umsetzung des ehrgeizigen Plans zu klein. „Platz für Privatsphäre – Fehlanzeige“, resümiert die Norderstedterin. Die Suche nach einem geeigneten Objekt war erstaunlich schnell erfolgreich; die alte Immobilie ebenso rasch verkauft. „Ohne den finanziellen Rückhalt meiner Eltern wäre das nicht möglich gewesen“, sagt Iris Ebert dankbar. Auch die positiven Reaktionen aus dem Freundeskreis machten Mut. „Ihr habt so viel Glück mit den Jungs“, hörte sie immer wieder. „Und deshalb gehen wir unseren Lebensweg weiter gemeinsam“, betont Iris Ebert.

Noch sind einige Renovierungs- und Umbauarbeiten nötig, bevor am 1. Oktober in Glashütte für vier Menschen das Abenteuer beginnt. „Das ist kein Wohnprojekt, sondern hier wächst eine Patchwork-Familie zusammen“, meint die engagierte Frau, selber bekennender WG-Fan mit vielen positiven Erfahrungen, „das Haus wird offen und geschlossen zugleich sein. Man kann etwas voneinander mitbekommen, muss aber nicht.“ Mit ihrem Mann wird sie das Erdgeschoss mit einem großen Gemeinschaftsraum bewohnen; darüber ziehen Mohammad Shafiq, der eine Ausbildung als Schweißer machen möchte, und seine Verlobte Donya ein. Mohammad Sediqs Reich ist das Dachgeschoss – „mit einem tollen Blick in den Garten“, begeistert sich der junge Mann, der derzeit ein Praktikum als Bodenleger absolviert.

Die Eltern der Brüder in Afghanistan sind in das Vorhaben involviert und über WhatsApp immer auf dem Laufenden. „Sie freuen sich, dass Iris und Manuel in Deutschland auf uns aufpassen“, versichert Mohammad Sediq und konstatiert: „Andere haben nur zwei Elternteile – wir jedoch haben zwei Mütter und zwei Väter.“