Der Kranichdolmetscher

Sie begrüßen sich überschwänglich, warnen einander stimmgewaltig vor Gefahren, markieren lautstark Reviergrenzen, zeigen Freude und Trauer – und einer hört zu, ehrenamtlich, im Dienste der Wissenschaft und des Artenschutzes. Bernhard Weßling braucht seine Forschungsobjekte gar nicht zu sehen. Ihre Stimmen reichen ihm, um zu wissen, wer sich im Umkreis aufhält. „Kraniche sind sehr scheue Vögel, die niemanden unter 200 Metern an sich heranlassen“, weiß der 68-Jährige. Doch das introvertierte Verhalten der imposanten Schreitvögel stört ihn nicht – kommt er ihnen doch mit dem Richtmikrofon ganz nah, um ihre Rufe aufzunehmen und deren Klangmuster später am Computer zu analysieren. Bernhard Weßling erkennt so die Individuen, kann sie über Jahre hinweg wiedererkennen und schafft so Verständnis über ihr rätselhaftes Verhalten.

Was vor Jahren aus Interesse und mangels Informationen in der Fachliteratur begann, machte den gebürtigen Herner zu einem international angesehenen Kranichforscher, dessen Wissen und Mitarbeit sogar für Auswilderungsprojekte für vom Aussterben bedrohte Schreikraniche in den USA gefragt ist.

Die Liebe zu den „Vögeln des Glücks“ fand der promovierte Chemiker nach seinem Umzug aus dem Ruhrgebiet in den Norden. Ob Zufall oder nicht, als er mit seiner Familie 1981 nach Bargteheide kam, tauchte auch ein Graukranichpaar im nahegelegenen Duvenstedter Brook auf. „Das war eine Sensation, denn sie waren die ersten Kraniche im westlichen Norddeutschland“, erinnert sich Weßling. Er begründete das heute noch aktive Kranichschutzprogramm mit und verbrachte viele Tages- und Nachtstunden mit seinen Söhnen als Kranichwache im Brook, um die großen Zugvögel in der Brutsaison vor Störungen durch Fußgänger und Radfahrer sowie vor Eierdieben zu schützen.

Mit Erfolg: Etwa ein Dutzend Paare haben mittlerweile ihr Brutrevier im Norden Hamburgs, hinzu kommen noch einmal etwa 20 Paare, die Reviere suchen (aber nicht bekommen), und oft zusätzlich viele herumstreunende Kraniche . „In der Kranichpopulation hat es sich herumgesprochen, dass sich im Duvenstedter Brook bestens Junge aufziehen lassen“, meint der Kommunikationsforscher. Einige wenige der grazilen Tiere verzichten bewusst auf den anstrengenden Flug in die Winterquartiere in Spanien und Afrika und bleiben sogar in den kalten Monaten hier, sofern das Nahrungsangebot ausreicht. Dass es dieselben Kraniche aus dem Sommer sind, kann Bernhard Weßling durch die von ihm aufgenommenen Rufe belegen. Denn nicht jeder Kranich trompetet gleich; Tonhöhe, -länge und Lautstärke sind unterschiedlich und somit einzigartig. „Kraniche sind nicht ausnahmslos instinktgesteuert. Vielmehr sind sie intelligent, treffen Entscheidungen, lösen Probleme und zeigen vielfältige Emotionen“, hat Weßling in knapp 40-jähriger Arbeit herausgefunden. In seinem vor kurzem erschienenen Buch „Der Ruf der Kraniche“ nimmt er den Leser mit auf spannende Expeditionen in eine verborgene Welt und zeigt erstaunliche Gemeinsamkeiten zwischen Mensch und Tier.

Führte den erfolgreichen Chemiker, der ein „organisches Metall“ erfand, ohne das weltweit kaum ein Auto unterwegs ist, früher der Weg nicht nur vor, sondern auch nach der Arbeit im Labor statt nach Hause erst einmal in den Brook zu „seinen“ Kranichen, lauscht er ihren tönenden Duetten nun sogar auf der Terrasse seines Hauses in Kleinhansdorf. „Ihre Rufe zu hören, beschert mir jedes Mal ein inneres Lächeln und große Freude.“ Direkt am Naturschutzgebiet Hansdorfer Brook wird er morgens von „Kranich-Trompeten“ geweckt und abends verabschiedet. Ein besonderer Ort, an dem die Kraniche in enger Nachbarschaft zu Menschen leben. Allein die anmutigen Vögel wissen warum  – wahrscheinlich, weil sie sich dort verstanden wissen.