Norderstedt Es gibt Taschen aus alten Lkw-Planen und Rucksäcke aus gebrauchten Surfsegeln, aber auf die Idee, ausgedienten Flugdrachen, sogenannten Hängegleitern, ein zweites Leben zu schenken, ist vor Jürgen Stephan keiner gekommen. Für den ersten Impuls sorgte der Vater des 57-Jährigen. „Vor drei Jahren wollte er die Garage meines Elternhauses bei Stuttgart aufräumen und fragte, ob meine drei alten Flugdrachen, die dort seit vielen Jahren lagerten, auf den Müll könnten.“ Selbstverständlich nicht! Denn trotzdem UV-Strahlung und häufiger Auf- und Abbau dem robusten Material zugesetzt hatten und es nicht mehr flugfähig war, war es zu schade für die Tonne, fand der seit gut 40 Jahren passionierte „Überflieger“ Stephan.
Den zündenden Einfall hatte seine Cousine. Die Münchener Textildesignerin fertigte auf ihrer heimischen Nähmaschine erste Prototypen für Taschen, Beutel und Überzüge. Jedes Teil ein Unikat und echte Hingucker, die vor allem in der Kreativszene gut ankamen – das Unternehmen „deltabag“ ging an den Start.
Eine Zelt- und Segelmacherei in Schenefeld bei Hamburg war schnell zu begeistern, bei diesem ungewöhnlichen Projekt dabei zu sein und übernahm die Produktion von Rucksäcken. In den Elbe-Werkstätten entstehen Fahrradsattelüberzüge, Kulturbeutel und Einkaufstaschen aus der wasserabweisenden, ultraleichten und farbenfrohen Drachenhaut. Und seit drei Monaten wird im Kleinen auch in einer Halle der Tischlerei ETS am Schützenwall produziert – der Chef ist selbst passionierter Gleitschirmflieger.
Zweimal pro Woche nimmt Carmen Romatowski dort ausrangierte Flugdrachen auseinander und macht aus ihnen hippe, tragbare Shopper, Wäschesäcke, Yogamattenbeutel und mehr. Aus einem Segel können bis zu zehn Rucksäcke entstehen – vom Zuschnitt bis zum fertigen Produkt dauert das rund zwei Stunden. „Das Material lässt sich leicht verarbeiten, die einzige Schwierigkeit ist vorab das Fixieren, da ich das Gewebe nicht abstecken kann, aber umso mehr Hingabe steckt in jedem einzelnen Produkt“, sagt die Hobby-Näherin.
Zudem werden nahezu alle Teile des ehemaligen Sportgerätes wiederverwendet. Die Quickpins der Steuereinheit dienen bei den Rucksäcken als stylischer Verschluss, Segellatten geben etwa Crossover-Taschen Stabilität. Ausgemusterte Fluggeräte erhält die Manufaktur von ambitionierten Hobby- und Profisportlern, die sie sonst gegen Entgelt entsorgen müssten. Sogar die Prüfetiketten für die Erstzulassung des Drachens werden vernäht, der oft bis zu 2000 Flugstunden und ehemals mit 100 km/h unterwegs war.
Die Fertigung soll regional, fair und nachhaltig sein, das ist Jürgen Stephan wichtig. Eine Produktion im kostengünstigen Ausland kommt für den Wahl-Hamburger nicht in Frage. Das spiegelt sich auch in den Preisen wider. 19 Euro sind für eine Kulturtasche fällig, ab 149 Euro für einen Rucksack – echte Handarbeit kostet eben.
Bislang können die wertigen Stücke über den Deltabags-Onlineshop bestellt und bei Gepäckspezialist Struve in Hamburg-Eppendorf gekauft werden. Inhaberin Angela Waldrich ist sich der Exklusivität bewusst: „Die Kunden legen Wert auf Individualität der Gebrauchsgegenstände, ihnen ist Nachhaltigkeit und lokale Produktion wichtig und viele wollen weg vom Leder hin zu Upcycling-Materialien.“
Noch ist die Angebotspalette bei „deltabag“ überschaubar, doch Jürgen Stephan hat viele weitere Ideen für neue Produkte: Portemonnaies, Duschvorhänge, Abdeckungen für Gartenmöbel, Fahrräder und Motorräder oder Sonnensegel könnten zukünftig in Hamburg und Norderstedt genäht werden und zum kultigen Höhenflug abheben.